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re:volt magazine: „Vor Corona sind nicht alle gleich“

Die Ausbreitung des Corona-Virus beeinflusst derzeit unser aller Leben und unseren Alltag enorm. Dennoch sind wir in der Pandemie-Krise nicht alle gleich. Ob Geringverdiener*innen, Hartz IV-Bezieher*innen oder Wohnungslose – diejenigen, die es vorher schon schwer hatten, sind von den Auswirkungen am massivsten betroffen. Sie führen nun umso mehr einen Kampf um ihre ohnehin schon prekäre Existenz. Viele von ihnen sind auf Notversorgungsangebote wie die Tafeln angewiesen, welche derzeit nach und nach wegfallen. Durch die grassierenden Hamsterkäufe preiswerter Nahrungsmittel stehen oftmals (wenn überhaupt) nur noch die teuren Varianten im Supermarktregal, die sich Empfänger*innen von Sozialleistungen bei einem Bedarfssatz von zurzeit 150€ für Lebensmittel und Getränke schlicht nicht leisten können. Und die Schließung von Wohnungslosenunterkünften bringt Menschen ohne festen Wohnsitz in den immer noch bitterkalten Nächten in große Gefahr. Während für die Großkonzerne in Eilverfahren milliardenschwere Rettungspakete geschnürt und inzwischen auch für kleinere und mittelständische Unternehmen Schutzschirme gespannt werden, bleibt eine Antwort der bürgerlichen Politik auf die Frage, wie den ärmsten Bevölkerungsgruppen geholfen werden soll, bisher aus. An unterschiedlichen Stellen regt sich deshalb Widerstand. re:volt-Redakteurin Mona Lorenz hat darüber mit der Erwerbsloseninitiative Basta! Berlin gesprochen.

Eine wichtige Frage gleich zu Beginn: Wie treffen die Konsequenzen der derzeitigen Pandemie-Bekämpfung Bezieher*innen von Sozialleistungen und prekär Beschäftigte?

Die Einschränkungen treffen alle Lohnarbeitenden und abhängig Beschäftigten. Besonders betroffen sind momentan all jene, die ihre Arbeitsplätze wegen der Pandemieverlieren, aber zum Beispiel auch Menschen mit Behinderungen oder Sexarbeiter*innen, also Menschen, die sonst öfter mal in Arbeitskämpfen übersehen werden. Dazu kommen Freiberufler*innen, Künstler*innen, Honorarkräfte und so weiter. All jene bräuchten unbürokratische Entschädigungszahlungen. Eine andere Risikogruppe sind Immigrierte aus EU-Staaten, die gerade von Jobcentern in subalterne und schmutzige Berufsbranchen verwiesen wurden. Diese Jobs in der Gastronomie, dem Sicherheitsgewerbe, der Tourismusbranche, auf dem Bau oder in den Schlachtfabriken sind ungesicherter als vergleichbare Arbeiten und zudem mies bezahlt. Es ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Tagen und Wochen zigtausend Leiharbeiter*innen, Beschäftigte in der Probezeit oder Angestellte in sogenannten Subunternehmen ihre Jobs verlieren, Aufträge beziehungsweise gleich auch Verträge gecancelt werden und viele dann ohne Geld zur Finanzierung ihrer Lebenshaltungskosten dastehen. Wir bekommen da einiges mit. So sollte ein Zeitarbeiter einen Änderungsvertrag unterschreiben, der den bisher unbefristeten Arbeitsvertrag in einem befristeten umwandelt. Wir haben dringend geraten nicht zu unterschreiben. Generell empfehlen wir, Kündigungen nie zu bestätigen beziehungsweise zu unterschreiben.

Gibt es seitens der Jobcenter eine Reaktion auf die Pandemie, etwa Lockerungen von Sanktionen oder eine Aufhebung der Teilnahmepflicht an angeordneten Terminen und Maßnahmen?

Eine Lockerung gibt es: Die Termine im Jobcenter fallen schlicht aus – wohl auch die zum medizinischen Dienst und zur Trägermafia. Damit meinen wir Wohlfahrtsverbände und andere private Unternehmen, die mit sanktionsbewehrten Maßnahmen wie Coaching, Bewerbungstraining, Ein-Euro-Jobs ihr Geld verdienen. In Berlin stehen derzeit Mitarbeiter*innen von Jobcentern vor der Tür – dort nehmen sie die Papiere entgegen oder teilen Antragspakete aus. Das erscheint erst einmal sinnvoll, denn so kommt man immerhin an die Anträge. Nicht alle Leute haben Drucker, Patronen, Papier und Internetanschluss. Wir nehmen zudem an, dass die Außendienstmitarbeiter*innen Schnüffelbesuche bei Sozialleistungs-Empfänger*innen vorerst einstellen. Es darf derzeit keine Sanktionen oder Reduzierungen der Leistungen wegen „Fehlverhaltens“ geben. Das alles geht aus den Weisungen der Bundesagentur für Arbeit für die Jobcenter hervor. Eigentlich müssen sich alle Jobcenter daran halten. Allerdings heißt das nicht viel: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtsurteils gegen Hartz IV-Sanktionen im vergangenen Jahr [Teile der Leistungskürzungen wurden von den Verfassungsrichter_innen als verfassungswidrig eingestuft, Anm. Red.] ist die Anzahl der Sanktionierten beispielsweise nicht gesunken.

Welche Härtefallregelungen gibt es für Menschen, die aufgrund ihres Alters oder gesundheitlichen Zustands besonders gefährdet sind?

Es gibt den unabweisbaren Mehrbedarf. Diesen Antrag kann mensch nach § 21 SGB II oder § 30 SGB XII stellen. Einzelne von uns haben probeweise „Versuchsanträge“ auf Mehrbedarf gestellt, mit dem Verweis, dass derzeit nicht mehr die billigsten Produkte verfügbar sind und die Lebensmitteltafeln kaum erreichbar seien.

Welche staatlichen Sofort-Maßnahmen erachtet ihr für notwendig, um die Auswirkungen der Krisenbearbeitung für Leistungsempfänger*innen abzumildern?

Hier gibt es natürlich nur die bekannten Tropfen auf den heißen Stein – etwa, was den Umgang mit der Beschränkung sozialer Kontakte auf ein Minimum angeht. Maßnahmen könnten für den konkreten Prozess der Antragsstellung oder -aktualisierung wie folgt aussehen: Um einen Antrag überhaupt stellen zu können, sollten öffentliche und kostenfreie Faxgeräte, Drucker und ähnliches bereitgestellt werden. Dann haben die Leute auch gleich eine Eingangsbestätigung der Antragsabgabe. Ein Erstantrag sollte formlos möglich sein. Innerhalb von 14 Tagen sollte dann eine Bewilligung und Auszahlung erfolgen. Wichtig wäre auch die Anerkennung von Ansprüchen, auch wenn die Voraussetzungen nicht hundertprozentig geklärt sind, etwa nach Aufhebung von Arbeitsverträgen oder bei Vermutung von angeblichen Vermögen bei Lebensversicherern. Die Jobcenter müssen davon ausgehen, dass Menschen, deren Bewilligungszeitraum abläuft, derzeit insbesondere weiterhin auf Hartz IV angewiesen sein werden und deshalb auch ohne Weiterbewilligungsantrag weiterzahlen. Sinnvoll erscheint uns zudem, dass Rückzahlungen durch Bezieher*innen wegen vermeintlich fehlgehender Mitwirkung oder Sanktionen eingestellt werden. Es braucht hier einen generellen Schuldenschnitt der Hartz IV-Berechtigten. Statt der wie bisher gedeckelten Mietzahlung soll die vollständige Miete ausgezahlt werden. All das gilt nicht nur für Hartz IV, sondern auch in der Sozialhilfe, bei ausländerrechtlichen Angelegenheiten wie dem Asylbewerberleistungsgesetz, der Unterbringung von Wohnungslosen, beim BAföG, Kindergeld, Kinderzuschlag und so weiter.

Das waren ja nun die direkten Pflaster. Was muss sich langfristig ändern?

Die Behördenmitarbeiter*innen müssten erst einmal Sadismus und Jawohl-Dienst ver- und Toleranz und Zugewandtheit erlernen. Da dies unter kapitalistischen Produktionsweisen nicht passieren wird, gehört das Hartz IV-System abgeschafft. Hartz IV bedeutet eine Einschränkung der Grundrechte und hat großes persönliches Leid zur Folge. Nicht zuletzt sind die Behörden ein Hort von strukturellem Rassismus. Die Agenda 2010 hat den Prozess der Entsolidarisierung mit armen Leuten vorangetrieben, aber auch die Konkurrenz nach dem Motto „Jede gegen Jede“ gefestigt. Im Jobcenter ist seit 15 Jahren ein Vakuum an rechtlichen Bestimmungen entstanden, das die Behörde mit administrativen Willkürakten füllt. Das läuft bisher einfach weiter. Im Land der „systemrelevanten Berufe“ soll sich niemand dem Blick der Pädagog*innen und Ordnungsdienstmitarbeiter*innen entziehen können. Unsere Aufgabe als Gruppe ist die alltägliche Realität der Arbeiterinnenklasse und dabei bleibt nicht aus, dass wir die wachsende Abwesenheit von Rechtsgarantien und systematisch entrechtenden Verwaltungsakten für uns selbst und die sogenannten Anderen (EU-Bürger*innen und Drittstaatenangehörigen) wahrnehmen. Kollektiv tanzen wir auf dem Hochseil. Keine Lösung ist für uns, dass nur die deutschen Arbeiter*innen annehmbare Lebensbedingungen erfahren, eine solche Spaltung nach Nationalitäten lehnen wir ab. Europaweit betrachtet wäre es schon eine große Hilfe, wenn alle Menschen einen Anspruch auf Hartz IV hätten – natürlich ohne Sanktionen und egal, wo in Europa sie sich gerade aufhalten. Die Lebenshaltungskosten sind im europäischen Vergleich nicht so unterschiedlich, da sollte die Höhe von Sozialleistungen mindestens wie hier sein. Das wäre auch angesichts der europaweiten gleichzeitigen Bewältigung der Corona-Krise ein wichtiger Punkt.

Welche rechtlichen Möglichkeiten haben Hartz IV-Bezieher*innen, die derzeit aus Gründen des Selbstschutzes den Anordnungen des Jobcenters nicht nachkommen können?

Der Selbstschutz wird zunächst einmal in der Behörde selbst umgesetzt. Die Mitarbeiter*innen der Berliner Jobcenter hatten gefordert, ganz schließen zu können, weil sie berechtigterweise ebenfalls auf Selbstschutz bedacht sind. Es wird also erst einmal keine Termine geben. Für die Bezieher*innen ist das nicht so einfach: In der Regel werden die Leute trotzdem zum Jobcenter gehen, weil sie dringend (Weiterbewilligungs-) Anträge stellen müssen, sich die Heizkosten erhöht haben, sie arbeitslos wurden, die Brille kaputt gegangen ist, der Strom gesperrt wurde, die Lebenserhaltungs- und Hygienekosten potenzielle minimale Puffer aufgefressen haben und so weiter. Wer bereits einen Termin bekommen haben sollte, der muss laut Aussagen der Jobcenter nicht hin. Krankschreibung wegen Erkältungssymptomen können nach einem Telefonanruf von den Ärzt*innen nachhause geschickt werden. Zum Briefeinwurf können wir aus Erfahrungen der lokalen Praxis sagen, dass sich die Hausbriefkästen der Jobcenter oft als schwarzes Loch entpuppen. Deshalb sollten die Schreiben gefaxt oder der Brief vor Zeug*innen eingeworfen werden. Letzteres ist aber mühseliger und nicht so gerichtsfest.

Wie könnte ein solidarischer Umgang mit den gesellschaftlichen Effekten des Corona-Virus, insbesondere für marginalisierte und prekarisierte Menschen, aussehen?

Darüber denken wir auch noch nach, vor allem, weil tragfähige Strukturen, die die Menschen wirklich auffangen, noch weitestgehend weiterstgehend fehlen. Einige strukturelle Rahmenbedingungen haben wir allerdings schon diskutiert: Wir sollten strikt gegen eine komplette Ausgangssperre, beziehungsweise die Verhängung des Notstands handeln und argumentieren, ebenso wie gegen die Abschottung der Länder voneinander. Ein Widerstand dagegen ist auch deshalb wichtig, weil es viele Menschen auf besonders harte Art und Weise trifft – Menschen ohne Wohnsitz, ohne Meldeadresse und so weiter. Sie sind durch diese Restriktionen noch stärkeren Gefährdungen ausgesetzt. Das bedeutet nicht, sich gegen physische Distanzierung und gegenseitige Inschutznahme zu stellen, im Gegenteil: Es richtet sich gegen die menschenverachtenden Auswüchse davon, gegen die Vereinzelung und Isolation. Derzeit wird das Grundrecht auf Asyl ausgesetzt, die Freizügigkeit innerhalb der EU wird zumindest für einige vakant. Wir bekommen nichts mehr voneinander mit. Wir bekommen nicht mehr mit, was mit den Leuten ohne Wohnung, ohne Klo, ohne Krankenversicherungsschutz passiert. Wir bekommen nicht mehr mit, wenn Abschiebungen laufen und so weiter. Teilweise verpassen wir auch, was mit uns selbst passiert, falls wir selbst prekär beschäftigt sind und keine Ahnung haben, wie es weitergehen soll.

Die aktuelle Lage ist eine Pandemie und kein Krieg. Wir sollten weiterhin gegen die organisierte Leistungsverweigerung deutscher Behörden einstehen, denn das Recht auf eine menschenwürdige Existenzsicherung gilt für alle Menschen.

Welche Schritte leitet ihr dafür als Basta! Berlin ein?

Wir selbst machen jetzt die Beratung per Mail und Telefon. Wenn es akut ist, gehen auch Einige von uns weiterhin mit zum Amt mit. Online gibt es außerdem eine Petition, die „die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens von 800-1200 € pro Person für 6 Monate“ fordert. Das wäre ein guter Anfang. Natürlich schaffen wir das nicht alleine und stehen in Verbindung mit anderen Gruppen, um neuere Entwicklungen mitzubekommen, zumeist in Berlin. Wir sind beispielsweise weiterhin in Kontakt mit der FAU, den critical workers und der oficina precaria, wir holen uns Rat bei der Also Oldenburg und Norbert Herrmann aus Bochum. Viele Menschen brauchen gerade jetzt das persönliche Gespräch. Sie brauchen wenigstens einen Tagesaufenthalt. Ein warmes Essen und Getränke braucht es auch. Das geht problemlos infektionssicher. Macht alle wieder auf!