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https://perspektive-online.net/2020/03/wirtschaftskrise-fuer-die-arbeiterinnen-ist-stay-the-fuck-home-keine-gute-idee/
Der Börsencrash in den vergangenen beiden Wochen dürfte eigentlich niemanden mehr überrascht haben: Schließlich ist er spätestens seit Anfang 2018 in Dutzenden Artikeln, Interviews, YouTube-Videos und Büchern – teilweise in reißerischer Form – vorhergesagt worden. Die weltweite Überproduktionskrise, die seine Grundlage bildet, entwickelt sich zudem seit mehr als einem Jahr.
Dass nun ausgerechnet mitten in dieser Überproduktionskrise auf dem Fischmarkt von Wuhan ein neuartiger Virus vom Tier auf den Menschen überspringt und eine weltweite Pandemie auslöst, ist sicherlich eine Überraschung. Sie ist aber auch nicht mehr als eine typische Zufälligkeit, wie sie in jedem Krisenzyklus des Kapitalismus der notwendigen Kapitalvernichtung zur Durchsetzung verhilft und sie verstärkt.
Die schweren Kursverluste an den weltweiten Börsen in der letzten Woche wurden jedoch nicht nur durch das Corona-Virus befeuert, sondern ebenso sehr durch den Ölpreiskrieg zwischen Saudi-Arabien und Russland, der eine Kreditblase im US-amerikanischen Energiesektor zum Platzen bringen könnte.
Wer zahlt für die Krise?
Das Ergebnis dieser Entwicklung ist dasselbe wie in jeder Krise, nur in einer neuen Dimension: Weltweit beschließen die Regierungen Krisenbewältigungsprogramme von historischem Ausmaß. In Deutschland stellt die Regierung 500 Milliarden Euro bereit und kündigt, falls es hart auf hart kommt, „unbegrenzte Kredite“ für Unternehmen an. Steuererleichterungen und Kurzarbeit sind schon seit letzter Woche beschlossen. Die EZB öffnet die Kreditschleusen für die Banken und weitet ihr Anleihenkaufprogramm aus.
Für Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutet das, dass sie für die Krise zur Kasse gebeten werden, denn:
- Erstens wird SPD-Finanzminister Scholz das Geld, das er den Unternehmen in „unbegrenzter Höhe“ verspricht, aus dem Lohn der ArbeiterInnenklasse entnehmen, nämlich in Form von Steuern.
- Zweitens werden die Arbeitslöhne durch Kurzarbeit nach unten gedrückt.
- Drittens wird die nächste Geldschwemme durch die Notenbanken zu Inflation und damit zu Preissteigerungen im Alltag führen. Je nach Dauer der Krise können diese drastisch ausfallen.
- Viertens wird es, entgegen aller jetzigen Beteuerungen, zum Abbau von Arbeitsplätzen kommen.
- Fünftens zeichnet sich schon jetzt ab, dass die Corona-Epidemie zum Anlass genommen wird, die Digitalisierung der Arbeitswelt im Hauruck-Verfahren durchzusetzen: Unternehmen stellen jetzt aufs Homeoffice um, Schulen und Universitäten auf Online-Unterricht.
Nach Corona wird es kein einfaches Zurück zum vorherigen Status quo geben. Im Kapitalismus dient die Einführung technischer Neuerungen aber stets dazu, mehr Profit aus jeder Stunde Arbeit herauszuholen und die Kontrolle über den Arbeitsprozess zu verschärfen. Mobiles Arbeiten kann im Zweifel z.B. die Entgrenzung der Arbeitszeit und die permanente Erreichbarkeit als neuen Standard bedeuten.
- Sechstens wird die Verbindung aus Digitalisierung und hohen Kosten für die Unternehmensrettung über kurz oder lang die Frage nach „Strukturreformen“ – sprich: einer neuen Agenda 2010 – aufwerfen: Schließlich wollen Arbeitszeiten, Arbeitsschutz, Arbeitslosenversicherung, Rente und vieles mehr an die neue digitale, flexible Arbeitswelt angepasst werden.
Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Unabhängig davon, ob der Corona-Ausnahmezustand vier Wochen anhält oder sechs Monate, unabhängig davon, ob der Euro in der nächsten Krisenwelle erneut gerettet wird oder es zur Währungsreform kommt: Kapital und Staat werden in den nächsten Monaten schwere Angriffe auf die Lebenslage von ArbeiterInnen unternehmen, die eine organisierte Gegenwehr erforderlich machen.
Wer organisiert die Gegenwehr?
Womit wir nun bei der politischen Widerstandsbewegung in Deutschland wären: Hier droht sich leider ein größeres politisches Desaster zu entwickeln. Während in den Jahren 2008/2009 immerhin noch zahlreiche Organisationen bundesweit gemeinsame Demonstrationen unter dem Slogan „Wir zahlen nicht für Eure Krise!“ organisiert haben, geht der Trend gerade genau in die entgegengesetzte Richtung.
Viele politische Organisationen haben die Solidarität mit Corona-Risikogruppen in den letzten Tagen damit verwechselt, sich dem staatlichen Ausnahmezustand freiwillig zu unterwerfen. Dieser folgt aber letztlich nur der kalten Logik, Menschenversammlungen zu unterbinden, die nicht dem Zweck der Kapitalverwertung und der Realisierung von Profiten dienen. Für eine ArbeiterInnenklasse, die gerade vor einer Welle von Angriffen auf ihre Rechte steht, ist „Stay the fuck home“ hingegen keine gute Idee – Corona hin, Corona her: Nach dieser Logik hätte es 1918/19, mitten in der weltweiten Spanische-Grippe-Welle mit vielen Millionen Toten, auch keine Novemberrevolution geben dürfen.
Dass reihenweise Initiativen ihre Proteste in der letzten Woche freiwillig abgesagt haben, hat es mit ermöglicht, dass das Versammlungsrecht in vielen deutschen Städten in kürzester Zeit geschliffen werden konnte – während sich z.B. die Gelbwesten die Straßen von Paris nicht haben nehmen lassen. Jetzt wird es darauf ankommen, dass sich der politische Widerstand in Deutschland nicht weiter desorganisieren lässt, sondern die zahlreichen Ansätze und Ideen für eine Arbeit in der Bevölkerung in dieser Lage aufnimmt und in die Tat umsetzt.
Teil 2: Die Auswirkungen der Krise: Arbeitslosigkeit, Inflation, Gewinner und Verlierer
Die Weltwirtschaft befindet sich in einer Überproduktionskrise unter den Bedingungen einer noch nie dagewesenen globalen Verschuldung. Seit einigen Jahren werden zudem die weltweiten Produktionsketten der Industrie tendenziell entflochten und regional zusammengezogen, was von einer Verschärfung des Kampfes um Wirtschaftsräume zwischen den großen kapitalistischen Staaten begleitet ist. Die Corona-Pandemie platzt nun in diese Gemengelage, führt zu einer massiven Verschärfung der Krise und beschleunigt die Kapitalvernichtung und Neuordnung des Weltkapitalismus. Wir wollen nun betrachten, wie sich die Krise auf die ArbeiterInnen auswirkt, und wie sich KapitalistInnen auf Kosten der ArbeiterInnen bereichern.
Rekordanstieg der Arbeitslosigkeit
Der Corona-Shutdown hat in zahlreichen Staaten bereits jetzt zu einem historischen Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt. In den USA haben in den letzten zwei Wochen 10 Millionen Menschen Arbeitslosenhilfe beantragt. Die Tendenz geht weiter deutlich nach oben: Pessimistische Schätzungen gehen von einer Steigerung der amerikanischen Arbeitslosenquote auf bis zu 30 Prozent aus. In Österreich ist die offizielle Zahl der Arbeitslosen durch den Shutdown um über 50 Prozent auf gut 562.000 angestiegen. Spanien bringt es auf 900.000 Jobverluste.
Für Deutschland rechnet das Institut für Arbeitsmarkts- und Berufsforschung, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört, bei einem sechswöchigen Shutdown mit einem Anstieg der offiziellen Arbeitslosenzahl von 2,28 auf 2,47 Millionen (also ca. 190.000) und einem erneuten Absinken dieser Zahl bis zum Jahresende. Diese – eher vorsichtige – Schätzung beinhaltet aber bereits, dass in der Spitze etwa 2 Millionen ArbeiterInnen in Kurzarbeit geschickt werden. Hält der Shutdown zehn Wochen an, gehen die Forscher der Arbeitsagentur von einer Steigerung der Arbeitslosenzahl auf über 3 Millionen aus. Das Münchener Ifo-Institut hält sogar Szenarien für möglich, bei denen in Deutschland 1,8 Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs in der Krise abgebaut werden und mehr als 6 Millionen ArbeiterInnen in Kurzarbeit müssen.
Zeitversetzter Job-Kahlschlag?
Das Muster des Job-Kahlschlags ist dabei immer weitgehend ähnlich: Als erstes trifft es die ArbeiterInnen in unsicheren Jobs wie LeiharbeiterInnen, befristet Beschäftigte oder MinijobberInnen. Über die Hälfte der neuen Arbeitslosen in Spanien waren vorher ZeitarbeiterInnen. Für Deutschland liegen noch keine entsprechenden Zahlen vor, sodass man nur erahnen kann, wie viele ZeitarbeiterInnen, aber auch KellnerInnen, Köche, Reinigungskräfte, jobbende Studierende und viele andere schon auf die Straße gesetzt worden sind. Bekannt ist bis jetzt nur, dass 470.000 Betriebe Kurzarbeit angezeigt haben.
Doch das dürfte nur der Anfang sein: Gerade für viele kleine und mittlere Unternehmen ist das wirtschaftliche Überleben jetzt nur noch eine Frage von Wochen oder Tagen. Die Pleitewelle, die ganz sicher kommt, wird zunächst aber noch kaschiert: nämlich zum einen durch staatliche Kredite. Zum anderen hat die Bundesregierung die Pflicht für Firmen, im Falle der Zahlungsunfähigkeit Insolvenz anzumelden, für die nächsten Monate ausgesetzt. Das bedeutet zum Beispiel, dass Unternehmen jetzt Staatskredite beantragen können, um ihre Einnahmen während des Shutdowns zu sichern, und dann erst in einigen Monaten in die Insolvenz zu gehen.
Es ist also zu erwarten, dass sich die Pleitewelle durch die staatlichen Maßnahmen erst zeitversetzt und in Schüben durch die Unternehmen, und von dort zu Gläubigerbanken zieht. Für die Beschäftigten heißt das, dass sich die Angriffe auf die Jobs ebenfalls zeitversetzt und in Schüben durch die Branchen ziehen werden – und damit zunächst etwa von den „prekär“ Beschäftigten hin zu den qualifizierten ArbeiterInnen in Vollzeitjobs. Wer sich heute also z.B. als Bankangestellte/r im Homeoffice bei vollem Lohn noch recht sicher fühlt, könnte in einigen Monaten selbst von Arbeitslosigkeit betroffen sein.
Die ArbeiterInnen zahlen doppelt für Unternehmenspleiten
Für KapitalistInnen ist das obige Szenario übrigens ein gutes Geschäft: Denn es ist zu erwarten, dass der Staat im Rahmen von Insolvenzverfahren auf einen Teil seiner Kredite verzichten wird – wovon mutmaßlich vor allem die Eigentümer großer Kapitalien profitieren werden: Die Firmeneinnahmen wären dann während des Shutdowns weitergelaufen und würden am Ende doppelt durch die ArbeiterInnen bezahlt: Erstens in Form von Jobverlusten, wenn die Unternehmen in der zeitversetzten Insolvenzwelle saniert oder abgewickelt werden müssten. Zweitens über den Staatshaushalt, denn dieser speist sich in Form von Steuern größtenteils aus dem Lohn der ArbeiterInnen. – Die staatlichen Bankenrettungen während der letzten großen Krise 2008/2009 bieten reichlich Anschauungsmaterial für die Verstaatlichung von Schulden.
Die Bundesregierung hat bis jetzt die Bereitstellung einer Summe von 1,2 Billionen Euro beschlossen, um die Wirtschaft in der Krise zu stabilisieren. Dazu gehören ein Nachtragshaushalt mit einer Rekordneuverschuldung des Bundes in Höhe von 156 Milliarden Euro und die Schaffung des Rettungsfonds für Unternehmen mit einem Volumen von 600 Milliarden Euro. Der Ökonom Ashoka Mody von der Princeton University hält es sogar für möglich, dass diese Summe noch einmal verdoppelt werden muss.
Am Ende wird aber jemand die Rechnung für solche staatlichen Pakete bezahlen müssen: In bisherigen Krisen war ein gängiges Verfahren hierfür z.B. die Erhöhung von Massensteuern, etwa der Mehrwertsteuer oder der Steuern auf bestimmte Konsumgüter (Tabak, Benzin o.ä.), welche die ArbeiterInnen beim Einkaufen bezahlen müssen.
Geldentwertung
Bei solchen Steuererhöhungen allein wird es jedoch nicht bleiben. Parallel zu den staatlichen Maßnahmen steigen jetzt auch die Notenbanken direkt in die Krisenrettung ein: Die Europäische Zentralbank (EZB) etwa stabilisiert den Markt für Unternehmenskredite, indem sie selbst Anleihen von Firmen aufkauft – direkt am 3.4.2020, dem ersten Tag, in einem Volumen von 1,5 Milliarden Euro.
Die zunehmende direkte Finanzierung von Staaten und Unternehmen durch die Notenbanken befeuert Warnungen vor einer erheblichen Entwertung des Geldes. So erinnert der ehemalige Bundesbank-Chefvolkswirt Thomas Mayer in einem Beitrag für die Wirtschaftswoche an die Hyperinflation 1923 infolge des „Ruhrkampfes“: Im Januar 1923 hatten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzt, um das Deutsche Reich zur Zahlung von Reparationsforderungen aus dem Ersten Weltkrieg zu zwingen:
„Die Weimarer Regierung reagierte darauf mit einem Aufruf zum passiven Widerstand. Es kam zum Generalstreik und Stilllegung der Produktion. Steuereinnahmen fielen weg und der Staat übernahm die Lohnfortzahlung für rund zwei Millionen Ruhrarbeiter. Da er keine andere Möglichkeit hatte, finanzierte er sein Budgetdefizit durch Kredite von der Reichsbank. Die Inflation war schon 1922 sehr hoch, aber mit dem ‚Ruhrkampf‘ stieg sie in die Stratosphäre.“
Die Parallele zu heute liege laut Mayer in der weitgehenden Unterbrechung der wirtschaftlichen Aktivität in Kombination mit staatlicher Geldflutung. Solange der Shutdown anhielt, sei alles noch im Rahmen geblieben. Als aber die Unterbrechung vorüber war, habe der umlaufenden Geldmenge wegen der stillgelegten Produktion keine entsprechende Menge von Waren gegenübergestanden. Die Folge: Die Inflation explodierte, Arbeiterlöhne waren innerhalb von Stunden nichts mehr wert, ein Brot kostete zeitweise 100 Milliarden Reichsmark.
Ob ausgerechnet dieses Extrem-Szenario auch für heute realistisch ist, sei einmal dahingestellt – hier spielt nämlich noch mit hinein, wie sich die Widersprüche zwischen den Staaten der Eurozone weiterentwickeln. Eine große Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von ArbeiterInnen zu KapitalistInnen über den Weg der Geldentwertung wird aber mit hoher Wahrscheinlichkeit stattfinden.
Was der Ex-Bundesbanker in seiner historischen Analogie übrigens nicht erwähnt, ist der eigentliche Grund für die massive Inflation 1923: Damals hatten deutsche Kapitalkreise die Stützung der Mark und damit den „passiven Widerstand“ gegen die Ruhrbesetzung nämlich selbst hintertrieben – und zwar um kurzfristig ein Riesen-Geschäft zu machen: Sie konnten im Zuge des „Ruhrkampfes“ nämlich billige Staatskredite aufnehmen, diese in ausländische Finanzprodukte investieren und – nach dem Verfall der Mark – die Kredite zu einem Bruchteil des ursprünglichen Wertes zurückzahlen.1
Wer macht den Riesengewinn?
Die genannten Beispiele machen deutlich, dass es gerade in extremen wirtschaftlichen Krisen auch immer extreme Profiteure gibt, und zwar dort, wo die wirtschaftliche Macht ohnehin schon konzentriert ist: In einem interessanten Beitrag für Telepolis weist der Aalener Volkswirtschaftsprofessor Christian Kreiß auf den Börsencrash von 1907 hin: Diesen hatte der Bankenmonopolist J.P. Morgan quasi im Alleingang durch eine Reihe ausgefuchster Kreditgeschäfte ausgelöst, um – nach einer zweimonatigen Panik – selbst als spendabler Retter der Märkte aufzutreten. In der Zwischenzeit hatte er jede Menge an Konkurrenten in den Ruin getrieben und in großen Mengen billige Aktien aufgekauft – was ihm einen erheblichen Machtzuwachs brachte.
Professor Kreiß wirft die Frage auf, ob die Art und Weise der heutigen Pandemie-Bekämpfung – nämlich die teilweise Stilllegung von Europa und Amerika – nicht auch einem unmittelbaren Geschäftszweck für finanzkapitalistische Kreise diene und durch entsprechende Stimmungsmache in den Medien politisch vorbereitet worden sei. Diese – durchaus berechtigte – Frage wird man erst mit einigem Zeitabstand sicher beantworten können, nämlich wenn klar ist, wie gefährlich das Virus denn nun tatsächlich ist, welche Mediziner mit ihren Handlungsempfehlungen richtig lagen und wer in diesen Wochen und Monaten das große Geschäft gemacht hat.
Bislang zeichnen sich Amazon und Microsoft als die großen Gewinner des Corona-Shutdowns ab. Die Bank Morgan Stanley sieht ebenso Alphabet (Google) und Facebook – trotz zeitweilig einbrechender Werbeeinnahmen – auf dem Vormarsch. Andere Firmen im E-Commerce wie der deutsche Versandhändler Zalando konnten dagegen bislang nicht profitieren. Die Neuordnung der Machtverhältnisse unter den großen Kapitalisten wird aber erst dann richtig klar werden, wenn die Übernahmeschlachten infolge weltweiter Firmenpleiten tatsächlich stattgefunden haben.
Der weltweite Kapitalismus befindet sich in der Corona-Pandemie also mitten in einem grundlegenden Einschnitt. Die Machtverhältnisse zwischen Unternehmen und Staaten werden sich in kürzester Zeit neu ordnen. Das wird für die ArbeiterInnen nichts Gutes bedeuten, wenn sie nicht auf entschlossene Gegenwehr vorbereitet sind.
In einem dritten Teil dieses Artikels wollen wir uns deshalb in der nächsten Woche anschauen, wie sich die Krise auf die Konflikte zwischen den Staaten auswirkt. Ist die NATO auf dem absteigenden Ast, während Russland und China von der Krise profitieren können? Wohin steuert Europa? Und: Wie „deglobalisiert“ wird der Kapitalismus nach der Krise denn nun sein?
1 Dieses ‚Ganovenstück‘ wurde damals in der Wirtschaftszeitschrift der Kommunistischen Internationale ausgiebig analysiert: vgl. E. Varga, „Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im zweiten Vierteljahr 1923“, S. 11
Teil 3: Die internationalen Auswirkungen der Krise
Die Weltwirtschaft befindet sich in einer Überproduktionskrise unter den Bedingungen einer noch nie dagewesenen globalen Verschuldung. Seit einigen Jahren werden zudem die weltweiten Produktionsketten der Industrie tendenziell entflochten und regional zusammengezogen, was von einer Verschärfung des Kampfes um Wirtschaftsräume zwischen den großen kapitalistischen Staaten begleitet ist.
Die Corona-Pandemie platzt nun in diese Gemengelage, führt zu einer massiven Verschärfung der Krise und beschleunigt die Kapitalvernichtung und Neuordnung des Weltkapitalismus.
Wir wollen nun betrachten, wie sich die Krise auf die Konflikte zwischen den kapitalistischen Staaten auswirkt. Wohin steuert Europa? Welche Staaten profitieren von der Krise? Und: Wie „deglobalisiert“ wird der Kapitalismus nach der Krise tatsächlich sein?
Nationale Grenzkontrollen
Auch auf internationaler Ebene verstärkt die Corona-Pandemie bestehende Konflikte und beschleunigt Entwicklungen, die schon länger stattgefunden haben. Wohl nirgendwo ließe sich das besser beobachten als in Europa, wo sich die EU inmitten der Krise wieder einmal als äußerst wackeliger Staatenbund mit kaum übereinzubringenden Interessen erwiesen hat.
Dies wurde schlagartig sichtbar, als etliche EU-Staaten Mitte März einseitig ihre Grenzen dichtgemacht und damit – mal eben – den gemeinsamen Binnenmarkt mitsamt Lieferketten in Teilen lahmgelegt haben. Ein 60 Kilometer langer LKW-Stau an der deutsch-polnischen Grenze am 18. März wurde zum Symbol für das herrschende Chaos.
Die EU-Kommission konnte die Staaten nach einigen Tagen zwar hinter einer 30-tätigen Schließung der Schengen-Außengrenzen versammeln. Die Binnengrenzen bleiben jedoch in Teilen geschlossen, was den Güterverkehr weiterhin beeinträchtigt. Eine dauerhafte Lösung ist zurzeit nicht in Sicht.
Fällt die Eurozone auseinander?
Ein weiterer europäischer Konflikt, der infolge der Pandemie wieder aufgeflammt ist, dreht sich um die Frage gemeinsamer Staatsanleihen der Euro-Zone, der sogenannten „Euro-Bonds“.
Durch die Krise ist eine Reihe südeuropäischer Staaten akut von der Staatspleite bedroht. Deshalb erneuerte ein von Frankreich angeführter Staatenblock innerhalb der Eurozone in den vergangenen Wochen eine alte Forderung nach einer gemeinsamen Aufnahme von Schulden – diesmal unter dem Namen „Corona-Bonds“.
Der Hintergrund dieses Konflikts wurzelt in der Entstehungsgeschichte des Euro als einer gemeinsamen Währung ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik. Von dieser widersprüchlichen Konstruktion konnte vor allem eine von Deutschland angeführte Gruppe von nordeuropäischen Staaten profitieren, indem sie Südeuropa seit Anfang der 2000er Jahre mit Krediten und Warenexporten überschwemmten.
Dies führte zur drohenden Zahlungsunfähigkeit von Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und weiteren Ländern infolge der Weltwirtschaftskrise von 2008/09. Die nordeuropäischen Staaten setzten damals unter Führung Deutschlands die Politik der „Spardiktate“ durch und festigten ihre wirtschaftliche Dominanz (u.a. durch den Aufkauf zwangsprivatisierter Firmen aus Südeuropa), was die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Eurozone nicht gelöst, sondern noch einmal massiv verstärkt hat. Insbesondere Italien steht seit Jahren immer wieder kurz vor dem Staatsbankrott.
Notdürftig gekittet wurde diese – im Grunde untragbare – Situation der Eurozone in den vergangenen Jahren durch die Nullzinspolitik und den Aufkauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank, was jedoch als Nebenwirkung den europäischen Bankensektor geschwächt und seine Stabilität untergraben hat.
Die aktuelle Krise droht nun alle Mechanismen zu sprengen, mit denen diese schweren Konflikte in den vergangenen Jahren noch einigermaßen unter Kontrolle gehalten wurden: Es ist kaum vorstellbar, wie das überschuldete Italien den Corona-Shutdown wirtschaftlich überleben soll.
Deutschland und die Niederlande haben der gemeinsamen Aufnahme von Schulden in Form von Corona-Bonds eine klare Absage erteilt, weil sie ihre Vorherrschaft in Europa untergraben würden. Und das Kreditpaket von 540 Milliarden Euro, auf das sich die EU-Finanzminister in der vergangenen Woche als Kompromiss geeinigt haben, dürfte bei weitem nicht ausreichen, um die Wirtschaft in den südeuropäischen Staaten zu stabilisieren.
Vor diesem Hintergrund sind viele Fragen noch völlig offen: Kommt jetzt eine Pleitewelle großer europäischer Unternehmen und Banken? Kann die EZB den Euro weiter stabilisieren, beispielsweise mit Hilfskrediten aus den USA? Oder bricht die Eurozone in dieser Krise tatsächlich auseinander?
Absehbar ist jedoch schon jetzt: Diese Krise könnte in den nächsten Monaten und Jahren einen Sozialkahlschlag vor allem in Südeuropa nach sich ziehen, der die Ereignisse der 2010er Jahr weit in den Schatten stellt. Und: Deutschland und seine Verbündeten versuchen ihre Vorherrschaft in Europa auszubauen. Dies würde jedoch um den Preis einer weiteren Schwächung der europäischen Unternehmen und Staaten im internationalen Vergleich geschehen.
Welche Staaten profitieren?
Während es so aussieht, als ob die europäischen Kapitalisten – von den deutschen Industrieunternehmen bis zu den Banken aller Euro-Länder – die großen Verlierer der aktuellen Krise werden könnten, zeichnen sich bislang zwei Gruppen von Gewinnern ab.
Dies sind auf der Ebene der kapitalistischen Unternehmen die großen Technologiekonzerne aus den USA (Amazon, Alphabet, Microsoft, Apple u.a.) und China. So stellt Amazons chinesischer Konkurrent Alibaba in der Krise z.B. die digitalen Plattformen für Chinas Schulen und Universitäten zur Verfügung, mit bislang etwa 50 Millionen Nutzern, während Amazon und Microsoft ebenfalls mit E-Commerce und Cloud-Diensten viel Geld im Shutdown verdienen.
Die Krise dürfte auch die Stellung der USA und Chinas als der beiden führenden Pole des Weltkapitalismus weiter stärken. Die Konflikte zwischen beiden Ländern und ihren Alliierten entwickeln sich bereits weiter. Zwischen der NATO und China / Russland ist in den letzten Wochen ein harter Kampf darum entbrannt, wer bei der Bereitstellung von Hilfslieferungen für Corona-betroffene Länder der verlässlichere Partner sei – wohinter sich knallharte geostrategische Machtinteressen verbergen.
Doch dabei bleibt es nicht: Anfang März berichtete das Handelsblatt über Beratungen der NATO anlässlich „bedeutsamer militärischer Aktivitäten“ in der Nähe der eigenen Grenzen. Russland etwa habe in den ersten Wochen des Shutdowns Manöver in seinem westlichen Militärbezirk und in der Nordsee durchgeführt. Jeder Staat ist in der aktuellen Situation bestrebt, seine eigene Machtposition auf der Weltbühne auszubauen, was die Gefahr weiterer Kriege in den nächsten Jahren erheblich steigern dürfte.
Rückbau globaler Produktionsketten
Ist diese Entwicklung also eine Rückabwicklung der „Globalisierung“ der letzten Jahrzehnte, wie es in den letzten Wochen immer wieder zu lesen ist?
Hier muss man genauer hinschauen: Was im Kern schon seit der Weltwirtschaftskrise 2008/09 langsam begonnen hat und nun offenbar beschleunigt wird, ist eine Umstrukturierung der globalen Produktionsketten.
Seit den 1970er Jahren hatten die großen monopolistischen Industrieunternehmen der westlichen Staaten ihre Produktion immer weiter über den Globus verteilt. Während die High-Tech-Endfertigung z.B. von Autos bei den Hauptstandorten der Firmen in den USA, Deutschland und anderen großen kapitalistischen Ländern verblieb, verlagerten die Unternehmen einfache Vorstufen ihrer Produktion vorzugsweise in Länder, wo die Arbeitskraft billig war. So entstanden bis in die 2000er Jahre weltumspannende Produktionsketten oder -netze. Insbesondere China entwickelte sich zur „Werkbank der Welt“, z.B. für die Auto-, Elektro- und Pharmaindustrie.
Vielstufige Produktionsketten, bei denen ein Zulieferer Bauteile für den anderen herstellt, sind jedoch sehr anfällig für Störungen: Im Jahr 2007 legte ein Erdbeben in der japanischen Präfektur Niigata fast die gesamte japanische Autoproduktion lahm. Durch das Erdbeben war zwar nur ein kleines Unternehmen schwer beschädigt worden, das Kolbenringe herstellte. Dieses belieferte jedoch fast alle japanischen Hersteller von Kolben für die Autoindustrie.
Der Aufbau von Zulieferbetrieben vor allem der Auto- und Elektroindustrie hat in den betroffenen Ländern außerdem dazu geführt, dass die Löhne dort stiegen – was vielfach eine Folge von erfolgreichen Streikkämpfen war. Damit entfiel aber einer der Hauptgründe für die extreme Form der Auslagerung. Seit 2008/09 ist zu beobachten, dass Unternehmen die verschiedenen Stufen ihrer Produktion wieder vermehrt in den Weltregionen konzentrieren, in denen auch ihre Endfertigung stattfindet. Ablesbar ist diese Entwicklung z.B. an einem Rückgang des Exportanteils an der weltweiten Wirtschaftsleistung seit etwa zehn Jahren, sowie der wachsenden Bedeutung des Handels innerhalb von bestimmten Weltregionen. Ein wichtiger Antreiber dieser Entwicklung sind gerade die großen Technologiekonzerne wie Amazon aus den USA oder Alibaba aus China, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Zeit zwischen Bestellung und Lieferung von Produkten perspektivisch auf wenige Stunden zu verkürzen, und damit auch den Druck auf ihre industriellen Lieferanten erhöhen. Die Bedeutung der Zeitverkürzung zwischen Produktion und Absatz ist also ein Stück in den Vordergrund getreten. Jetzt, wo alle Welt angesichts Corona davon spricht, internationale Lieferabhängigkeiten zu reduzieren, wird sich diese Tendenz beschleunigen.
Deglobalisierung?
Der Punkt bei dieser Entwicklung ist jedoch: Die Bedeutung weltumspannender monopolistischer Konzerne, die ihr Kapital nicht im nationalen Rahmen, sondern international verwerten, ist gestiegen. Produktionsketten mögen nun regionaler aufgebaut sein, dafür sind es jedoch dieselben Firmen, die heute auf allen Erdteilen solche Fertigungsstrukturen betreiben (wie z.B. die deutsche Autoindustrie, die seit einigen Jahren verstärkt Produktionsketten in Afrika aufbaut).
Es ist also nicht so, dass die Kapitalverwertung durch diese Entwicklung in den nationalen Rahmen zurückgedrängt würde – oder dass so etwas auch nur denkbar wäre. In diesem Sinne geht die „Globalisierung“ des Kapitalismus weiter und verändert nur ihre Form.
Diese Entwicklung verschärft jedoch absehbar den Konkurrenzkampf der multinationalen Konzerne. Man könnte sagen: Eine Entwicklungsphase, in der das Kapital noch neue Weltregionen industriell erschlossen hat, ist in den letzten zehn Jahren zu Ende gegangen, und jetzt beginnt der Kampf um die Neuaufteilung der entstandenen Wirtschaftsräume, der von den USA und China angeführt wird. Die aktuelle Krise wäre dann eine Art Brandbeschleuniger für diesen Kampf, und die beschriebenen internationalen Konflikte der letzten Wochen wären seine Erscheinungsformen.